Unerzähltes aus »Verheißung und Dekadenz« II

Schreiben wie Gogol?

Marion Voigt am Dostojewski-Denkmal in Baden-Baden

»Erst nach der achten Abschrift, unbedingt mit eigener Hand, ist das Werk künstlerisch ganz vollendet, wird zur Perle des Schaffens.« – Das klingt mühsam. Und Nikolai Wassiljewitsch Gogol meinte es genau so. Nicht nur, weil er mit der Hand, mit der Feder schrieb. Der ukrainische Meistererzähler, der seine Werke auf Russisch verfasste, redete ungern über seine Arbeit. Aber bei einer Abendgesellschaft um das Jahr 1850 erzählte er einem jungen Kollegen, wie er beim Überarbeiten vorging, und wir können ihm ein wenig über die Schulter schauen.

Die Kunst des Überarbeitens

»Zuerst muss man alles zu Papier bringen, wie es gerade kommt, wenn auch schlecht, farblos, aber unbedingt alles, und es dann wieder vergessen. Ein oder zwei Monate später, manchmal dauert es auch länger (das ergibt sich von selbst), holt man das Geschriebene hervor und liest es sich durch: Sie werden sehen, dass vieles nicht besonders gelungen, vieles überflüssig ist und manches sogar fehlt. Machen Sie Korrekturen und Anmerkungen am Rand – und legen Sie das Heft erneut beiseite.

Bei der nächsten Durchsicht gibt es wieder neue Anmerkungen am Rand, und wo der Platz nicht reicht, wird ein Zettel an die Seite geklebt. Wenn alles vollgeschrieben ist, nehmen Sie das Heft und schreiben es eigenhändig ab. Dabei ergeben sich wie von selbst neue Einsichten, Kürzungen, Ergänzungen, Verfeinerungen des Stils. Zwischen die bisherigen springen Wörter, die unbedingt an diese Stelle gehören, aber aus irgendeinem Grund nicht sofort dort erschienen sind. Und wieder legen Sie das Heftchen weg.

Gehen Sie auf Reisen, vergnügen Sie sich, machen Sie gar nichts oder schreiben Sie zumindest an etwas anderem. Es kommt der Moment, da erinnern Sie sich an das vergessene Heft: Nehmen Sie es, lesen Sie alles noch einmal, überarbeiten Sie es auf die gleiche Weise, und wenn wieder alles vollgeschmiert ist, schreiben Sie es eigenhändig ab. Sie werden bei diesem Vorgehen bemerken, dass zusammen mit der Bestimmtheit des Stils, der Vollendung, Klarheit der Sätze – irgendwie auch Ihre Hand an Bestimmtheit gewinnt, die Buchstaben geraten fester, entschlossener.

So muss man es, meiner Ansicht nach, achtmal machen. Der eine braucht vielleicht weniger, der andere sogar mehr. Ich mache es achtmal. Erst nach der achten Abschrift, unbedingt mit eigener Hand, erscheint das Werk künstlerisch ganz vollendet, erlangt die Perle des Schaffens. Weitere Korrekturen und Überarbeitungen können die Sache verderben; wie es beim Malen heißt: Man überzeichnet.

Natürlich ist es nicht immer möglich, diesen Regeln zu folgen, das ist schwierig. Ich rede vom Idealfall. Manches kann man auch schneller aus der Hand geben. Der Mensch ist schließlich ein Mensch und keine Maschine.«

Manuskript und Feder_pixabay
Foto: Evgeny Kulakov, pixabay

Der verlorene zweite Band der Toten Seelen

Diese Schreibtipps von Nikolai Gogol hat der Dichter, Übersetzer und Journalist Nikolai Wassiljewitsch Berg überliefert (mit dem gleichen Vor- und Vatersnamen wie Gogol). Er lernte den bewunderten Schriftsteller 1848 in Moskau kennen und veröffentlichte seine »Erinnerungen an N. W. Gogol« 1872 in der Zeitschrift Russkaja Starina.

Gogol starb 1852 im Alter von knapp dreiundvierzig Jahren. Mit dem Roman Tote Seelen hat er ein Meisterwerk hinterlassen, an dessen Fortsetzung er viele Jahre lang arbeitete. Leider ist der zweite Band nie erschienen. 1845 warf der Autor ganze Kapitel des Manuskripts ins Feuer. Und kurz vor seinem Tod verbrannte er die vollständige, druckreife Fassung, ob aus Versehen oder mit Absicht.

Mehr über Nikolai Gogol und sein Schaffen erzähle ich in meinem Buch über Baden-Baden und die russischsprachige Literatur: Verheißung und Dekadenz.

 

Beitragsbild:
Titelblatt der Erstausgabe von Tote Seelen, 1842, nach einer Zeichnung des Autors
(akg-images / De Agostini Picture Library), in: Marion Voigt, Verheißung und Dekadenz, S. 76

 

Marion Voigt, Verheißung und Dekadenz
Baden-Baden und die russische Literatur im 19. Jahrhundert

Biografische Skizzen, Freiburg, 2. Auflage 2025

Gebunden mit Lesebändchen, 228 Seiten, mit Abbildungen, 24 Euro
ISBN 978-3-910228-07-8

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