Rezension: Olga Tokarczuk, Unrast

Grenzenlos erzählen

Cover zu Tokarczuk, Unrast für Rezension

Die Trägerin des Literaturnobelpreises 2018 hat diesen Roman bereits 2007 im polnischen Original veröffentlicht. Jetzt ist die deutsche Übersetzung von Esther Kinsky in einer sehr schönen Neuausgabe beim Kampa Verlag erschienen und wirkt so frisch und federleicht, wie das Cover verspricht.

Eine Frau hat sich das Unterwegssein, das Reisen als Lebensform auserkoren und erkennt darin das Wesen der Welt. Rastlos, unstet bewegt sie sich kreuz und quer durch Raum und Zeit.

Den roten Faden bildet das Reisetagebuch der Erzählerin – allerdings geizt sie mit konkreten Ortsangaben, bleibt lieber im Ungefähren, denn: »Beschreiben heißt vernichten. […] Man sollte verschlüsseln und verschleiern«. Das tut sie dann auch sorgfältig. Reiseführer hält sie für gefährlich, wenn überhaupt, lässt sie nur zwei Bücher gelten, die die Welt beschreiben, eine polnische »Enzyklopädie der Absonderlichkeiten und Superlative« aus dem 18. Jahrhundert sowie Moby Dick, dazu eingeschränkt Wikipedia, aber ergänzt um die Beschreibung der unsichtbaren Welt. Aus diesen Reflexionen entspinnt sich die Geschichte von Eryk, der als Schmuggler im Gefängnis sitzt und mit Melvilles Walfängerroman Englisch lernt.

»Kuriositätenkabinett«

Eryks Geschichte ist nur eine von vielen. Das Buch enthält das reinste »Kuriositätenkabinett«, so eine Kapitelüberschrift. Die Episoden sind unterschiedlich lang, manche bestehen aus wenigen Zeilen, wie Reisenotizen, die Anuschka-Geschichte dagegen umfasst mehr als dreißig Seiten. Einige Figuren tauchen mehrmals auf. Die insgesamt über hundert Abschnitte ergeben einen besonderen Erzählrhythmus, ein Mosaik aus Impressionen, Traumsequenzen, Erinnerungen, zum Beispiel an die eigene Kindheit. Auch historische Exkurse spielen eine wichtige Rolle, etwa zur Anatomie. Dabei kehrt das Element der Präparation, des Untersuchens und Konservierens von Körperteilen immer wieder.

Die Ich-Erzählerin hält sich meist im Hintergrund. Als unsichtbare, »ideale« Beobachterin sieht sie »Augenblicke, Fragmente, vorübergehende Konfigurationen, die kurz nach ihrer Entstehung wieder zerfallen. Leben? So etwas gibt es nicht, ich sehe Linien, Flächen und Körper und ihre Verwandlungen in der Zeit.«

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Das Zerfallen der sichtbaren Welt zieht sich motivisch durch das ganze Buch. Am Anfang heißt es: »In meinem Schreiben wurde das Leben zu unvollständigen Erzählungen, traumgleichen kleinen Geschichten mit ausfransenden Erzählfäden, von weitem erschien es in ungewöhnlich verschobenen Perspektiven oder wie ein Querschnitt – und es ließen sich kaum Schlussfolgerungen auf das Ganze ziehen.«

Am Ende dann die Idee: »Wir werden uns gegenseitig aufschreiben, das ist die sicherste Form der Kommunikation, wir werden einander in Buchstaben und Initialen verwandeln und auf den Seiten der Notizbücher verewigen, wir werden uns plastinieren, ins Formalin der Sätze versenken.«

»Ich bin«

Der Satz »Ich bin« umrahmt die fiktiven Reisen, doch dahinter lauert die Frage, »wer bin ich?«. Während die Erzählerin als Kind zum ersten Mal ihre Grenzen überschreitet, fasziniert vom Fließen, vom Wandel, findet sie später zu der Einsicht, dass Orte austauschbar sind. Für die eigene Identität ist es »egal, wo ich bin. Ich bin.«

Dazu passt das Tagebuchschreiben als Selbstvergewisserung; wie das Päparieren ist es eine Strategie, um dem Zerfall, der Vergänglichkeit zu entgehen. Oder in einem mystischen Sinn dem Bösen. Das verweist auf den polnischen Titel des Romans, Bieguni, eine frühere Religionsgemeinschaft von russischen Altgläubigen, deren Mitglieder überzeugt waren, nur Bewegung könne vor dem Bösen retten.

Etwas Editionsgeschichte

Interessant an diesem Roman sind auch die Stationen seit seiner Erstveröffentlichung 2007 (Wydawnictwo literackie). Schon 2008 wurde er mit dem bedeutendsten polnischen Literaturpreis Nike ausgezeichnet und im Jahr darauf erschien die deutsche Übersetzung von Esther Kinsky (Schöffling & Co.). Eine Taschenbuchausgabe folgte 2011 (btb), danach verschwand Unrast langsam aus den Regalen der Buchhandlungen. Dann die Übersetzung ins Englische 2017 (Flights, Fitzcarraldo Editions): Im Jahr darauf erhielten Olga Tokarczuk und ihre Übersetzerin Jennifer Croft den Man Booker International Prize; im Frühjahr 2019 brachte der Schweizer Kampa Verlag die deutsche Neuausgabe heraus und im Oktober gab es den Literaturnobelpreis für die Autorin, rückwirkend für 2018, »für das Überschreiten von Grenzen als eine neue Form von Leben«.

Synchronizität

Die poetischen Bilder und magischen Sätze in diesem Buch laden von Seite zu Seite dazu ein, die Perspektive zu wechseln, überraschende Bezüge zu entdecken. Ob es sich um Momente der Zeit handelt, die »wie Leintücher in der Luft« hängen, oder um den »tagsüber sorgfältig gewebten Teppich des Sinns«, den Penelope allnächtlich wieder auftrennt – die Autorin legt ein feines Netz von Fäden aus, die in alle möglichen Richtungen führen. Entsprechend vielschichtig ist der Text.

Mir begegnete Olga Tokarczuk im Frühjahr 2019, als sie in Nürnberg bei den texttagen Unrast vorstellte. Später trug ich das Werk auf einer Tagung der BücherFrauen mit mir herum. Das erste Seminar, das ich dort besuchte, fand im Raum »Olga Tokarczuk« statt. Schöner Zufall, dachte ich. Oder womöglich ein »Beweis für den Sinn der Welt«, wie es an einer Stelle über Synchronizität in dem Roman heißt? Kurz darauf durfte ich ihn beim Nürnberger Büchertalk BlätterRauschen empfehlen, dabei kam es zu einer weiteren Koinzidenz: Wir gedachten eines verdienten Buchhändlers der Stadt, der gerade hochbetagt verstorben war. Im Nebensatz erfuhren wir, dass der Mann seinen Körper dem Anatomischen Institut der Erlanger Universität übereignet hatte. Dieses Detail hätte Frau Tokarczuk bestimmt gefallen.

Unrast beim BlätterRauschen

Foto: ©KulturKellerei


Olga Tokarczuk, Unrast
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Kampa Verlag, Zürich, 2019
Hardcover, 464 Seiten, mit Abbildungen
ISBN 978-3-311-10012-6, 24,00 Euro

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